EMDR und unser Körpergedächtnis: Der Körper vergisst nicht

EMDR, Stress und Verkörperung in der Arbeit mit Führungskräften

In meiner Arbeit mit Führungskräften begegnet mir eine zentrale Erfahrung immer wieder: Es sind nicht nur die äußeren Anforderungen, die belasten – sondern das, was im Körper bleibt, wenn der Kopf längst zur nächsten Entscheidung übergegangen ist.

Viele - gerade junge – Führungskräfte arbeiten und engagieren sich über Jahre hinweg scheinbar problemlos. Doch irgendwann zeigen sich die Spuren: Schlafstörungen, chronische Anspannung, wiederkehrende emotionale Muster – oder einfach das Gefühl, vom eigenen Erleben abgetrennt zu sein.

Ich bin überzeugt: Führung beginnt nicht im Denken, sondern in der Verbindung mit dem Körper. Und genau hier bietet EMDR, ergänzt durch körperorientierte Ansätze, einen außergewöhnlich wirksamen Zugang.

Die Arbeit von Bessel van der Kolk

Ich durfte in meinen Ausbildungen Bessel van der Kolk, einen der führenden Traumaforscher, in mehreren Online-Seminaren erleben. Sein Buch The Body Keeps the Score ist heute schon ein Klassiker. Doch was mich besonders bewegt hat, ist seine klare, unaufgeregte Art, über etwas zu sprechen, das oft übersehen wird:

Bessel van der Kolks zentrale These lautet: Stark belastende Erfahrungen werden oft abgespalten oder verdrängt – doch der Körper erinnert sich – The body keeps the score.

Immer dann, wenn der Alltag unbewusst an diese gespeicherten Erlebnisse erinnert, treten sie als emotionale oder somatische Reaktionen erneut in Erscheinung – häufig ohne bewusste Verbindung zur ursprünglichen Ursache. Diese Erfahrungen sind nicht nur mentale Erinnerungen – sie sind verkörpert.

Genau hier hilft EMDR: Emotionen als körperliche Repräsentationen werden in Informationen umgewandelt - dadurch werden wir entlastet und können mit mehr innerer Kraft und Stärke im Alltag auftreten.
— Motoki Tonn

Sie zeigen sich im Muskeltonus, im Atemmuster, in der Haltung – und oft auch im Verhalten. Deshalb reicht es nicht, darüber zu sprechen. Viele klassische Therapie- oder Coachingansätze arbeiten fast ausschließlich im Kognitiven. Doch unser Nervensystem folgt anderen Regeln.

Van der Kolk verweist eindrücklich auf die Wirksamkeit von Methoden, die den Körper direkt ansprechen: Yoga, rhythmische Bewegung, Atemarbeit – und auch EMDR. In einer randomisierten Studie (van der Kolk et al., 2014) wurde nachgewiesen, dass Yoga bei traumatisierten Frauen stärker zur Stabilisierung beiträgt als Gesprächstherapie allein.

Berührung ist mehr als Kontakt – sie ist Regulation

Van der Kolk spricht auch ein Tabuthema an: die Rolle von Berührung. Nicht im Sinne von Grenzüberschreitung, sondern im Sinne von sicherer, achtsamer Berührbarkeit. In vielen Therapieformen ist Berührung ausgeschlossen – doch wie soll ein Nervensystem heilen, wenn es nichts spürt?

Ich habe diese Frage oft im Kontext von EMDR-Coaching erlebt. Allein das sanfte Tapping, ob vom Coach oder als Selbststimulation, hat bei vielen meiner Klient:innen spürbare emotionale Entlastung bewirkt – nicht über Worte, sondern über Rhythmus, Präsenz und Sicherheit.

Schon Carl Rogers, der Begründer der personenzentrierten Gesprächstherapie, verstand Empathie als seelische Berührung. Und auch EMDR lebt – jenseits seiner Protokolle – von der verkörperten Beziehung zwischen Coach und Klient.

Stress ist das Salz des Lebens – oder Gift im Übermaß?

Bereits der Stressforscher Hans Selye stellte fest, dass unser Körper viel mehr speichert als wir glauben. In seinen berühmten Untersuchungen an Patient:innen, die nachts keine Ruhe fanden, erkannte er: Stress ist notwendig – aber nur in der richtigen Dosis.

Sein Satz „Stress ist das Salz des Lebens“ ist bekannt. Doch Selye wies auch nach, dass chronischer oder übermäßiger Stress körperliche Marker hinterlässt – in Form von Hormonspiegeln, Reaktionsmustern und vegetativen Entgleisungen. Diese Belastungen sind oft nicht bewusst – aber messbar und spürbar. Und sie wirken im Alltag von Führungskräften, in Teams, in Entscheidungen.

Antonio Damasio: Der Körper trifft Entscheidungen – bevor der Verstand versteht

Der Neurowissenschaftler Antonio Damasio hat mit seiner Theorie der „somatischen Marker“ eindrücklich beschrieben, wie eng Körper und Entscheidung miteinander verbunden sind. Seine These:

Emotionen entstehen aus körperlichen Zuständen – und prägen jede Form von Denken und Handeln.

Wenn wir also über Führung sprechen, über Klarheit, Präsenz, Entscheidungskraft – dann sprechen wir nicht nur über mentale Fähigkeiten. Wir sprechen über verkörperte Intelligenz. Und genau hier bietet EMDR – mit seinem körpernahen Zugang – eine Brücke: zwischen Gefühl und Regulation, zwischen innerer Reaktion und äußerem Handeln.

EMDR Coaching: Was in der Praxis entsteht

In meiner Arbeit mit Führungskräften kombiniere ich daher zunehmend:

  • EMDR – als körperorientiertes Verfahren zur Entlastung gespeicherter emotionaler Spannungen

  • Imaginationsarbeit (z. B. sicherer Ort, innere Mentoren) – zur Stabilisierung und Ressourcenaktivierung

  • Atem- und Haltungsbewusstsein – für mehr Selbstwahrnehmung im Moment

  • Ressourcenarbeit – wertvolle Übungen, die Klienten über die Coaching-Einheiten hinaus für sich tun können.

  • Achtsamkeitsübungen – Audios, die ich Klienten zur Verfügung stelle, um innere Ruhe und innere Stärke auch im Alltag zu kultivieren.

Diese Arbeit wirkt oft still, aber tiefgreifend. Sie bringt nicht nur Entlastung – sondern auch eine neue Qualität von Selbstführung. Die Übungen darüber hinaus stärken die Willenskraft, Selbstkontrolle und Resilienz.

Führung beginnt im Körper

Wer führen will – andere oder sich selbst – braucht mehr als Strategie. Er oder sie braucht Zugang zum eigenen Erleben. Und das beginnt nicht mit Denken, sondern mit Spüren.

Die Arbeit von Bessel van der Kolk, Hans Selye und Antonio Damasio hat mir gezeigt: Der Körper ist kein Anhängsel – er ist Zentrum. EMDR ist für mich ein Weg, diese Wahrheit in die Praxis zu bringen: achtsam, professionell und tief verbunden mit dem, was Menschen stärkt.

Literatur & Studien

  • van der Kolk, B. (2014). The Body Keeps the Score. Brain, Mind, and Body in the Healing of Trauma.

  • van der Kolk et al. (2014). Yoga as an Adjunctive Treatment for PTSD: A Randomized Controlled Trial.

  • Selye, H. (1974). Stress without Distress.

  • Damasio, A. (1994). Descartes’ Error: Emotion, Reason, and the Human Brain.

  • Ogden, P. & Fisher, J. (2015). Sensorimotor Psychotherapy: Interventions for Trauma and Attachment.

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